Mit atemberaubender Eindringlichkeit
Utz Rachowski: “Beide Sommer”, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2011, 123 Seiten
Die Erzählungen und Essays Utz Rachowskis sind eine Entdeckung. In “Beide Sommer” stemmt sich der Dichter mit Poesie und Genauigkeit gegen die ritualisierten Mechanismen des Verdrängens: ruhig, eindringlich und mit unverwechselbarer Stimme.
Utz Rachowski einen Heimatdichter zu nennen, ist nichts Ehrenrühriges. Es verlangt der scheinbar betulichen Bezeichnung allerdings etwas ab, denn der 1954 in Plauen geborene Lyriker und Erzähler ist ein Aufbegehrender – wie so viele, die aus dem sächsischen Vogtland stammen: Gerhard Zwerenz, Hans Joachim Schädlich, Gerald Zschorsch, Jürgen Fuchs. Ende der siebziger Jahre wegen “staatsfeindlicher Hetze”, das heißt wegen der Verbreitung von Biermanns Liedern und Reiner Kunzes Gedichten, ins Gefängnis geworfen, wurde er später nach Westberlin ausgebürgert, wo dann auch seine ersten Bücher erschienen.
Dass Rachowski zu Unrecht bislang ein wenig im Schatten der anderen Autoren stand, ist nun in seinem jüngsten Buch “Beide Sommer” zu entdecken. Es versammelt zwei Erzählungen und drei Essays, und wer einmal diese unverwechselbare, ebenso ruhige wie eindringliche Stimme gehört hat, wird sie wohl nie wieder vergessen.
“Die Straße. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild. Auf ihm steht Reichenbach im Vogtland.”
Dort besucht das Kind, das der Autor war, in den Sommerferien die Großmutter, Momente voller Glück und Harmonie. Die Erzählung aber endet mit diesen Worten:
“Es war Sommer, ein heißer Tag, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag, der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig. In der darauffolgenden Nacht überschritten, unter anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirge, 500.000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische Grenze. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden Seiten in Feld über.”
Es ist gut, dass dieser Text, 1984 erstmals erschienen und seither vergriffen, nun wieder zugänglich ist. Und gewiss kein Zufall, dass es damals der Schriftsteller Hans Sahl war, als Antinazi-Emigrant in New York lebend, der sofort das Universelle dieser im Lokalen wurzelnden Prosa erspürt hatte:
“”Utz Rachowski hat die Fähigkeit, in der Idylle auch das Unheil, das ihr droht, anzudeuten, den Krieg im Frieden.”
Inzwischen lebt Rachowski wieder im Vogtland, doch auch die jüngsten literarischen Essays ziehen ihre Spannung aus Konflikten – zwischen Heimat und Welt, Reden und Verschweigen, ganz ungeschützt gesagt: Zwischen Lüge und Wahrheit. Denn die seelische Verwüstung durch zwei deutsche Diktaturen, denen Rachowski hier in der Rezeption der Bücher von Christoph Meckel oder Jürgen Fuchs nachspürt, hinterlässt bis heute ihre Spuren. Nicht zuletzt im Wort “Diktatur”, das mitunter allzu lässig suggeriert, hier habe ein schlimmer Staat eine im Grunde unschuldige Gemeinschaft ahnungsloser Bürger unterdrückt.
Ohne jemals in moralistisches Tremolo zu verfallen, aber bohrt Utz Rachowski genau hier ungleich tiefer und fragt nach der Verantwortlichkeit des Einzelnen, nach Familiengeheimnissen und Verdrängungs-Mechanismen. Die suggestive Lakonie seiner Erzählungen und Gedichte kommt damit auch den Essays zugute – in keiner Zeile wird geeifert oder geschwätzt.
Denn niemals verbirgt der von ostdeutscher Landschaft so fundamental geprägte Autor die Brüche – und nicht die Notwendigkeit, mitunter eben solche Brüche herbeizuführen. In seinem Gedicht “Die Tauben von Weimar” etwa heißt es:
“Hier liefen
sie
um die Brunnen
und fraßen Bockwurstreste
Hier lief
ich
davon mit
siebzehn
riß ab
von den Wegen der Gemeinschaft”
Von Joseph Brodsky stammt das kluge Diktum: “Ästhetik ist Ethik.” Utz Rachowskis Texte beweisen das in geradezu atemberaubender Eindringlichkeit, die keinen Platz lässt für hohle Rhetorik. Wohl aber für ein Selbstbewusstsein, das man nicht allein vor 1989 auch anderen (ost)deutschen Schriftstellern gewünscht hätte:
“Chinesischer Türhütergott.
Schlagt an den Pfosten
ihn ruhig.
Es ist ohnehin nur Schein.
Denn Gott behütet
die Dichter nicht
und vor ihnen
schützt auch
kein Gott.”
Besprochen von Marko Martin
Utz Rachowski: Beide Sommer. Zwei Erzählungen und drei Essays
Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2011
123 Seiten, broschiert, 14,95 Euro